Andrew Sharman: Allerdings müssen HSE-Fachkräfte das neu gewonnene Vertrauen ihrer Unternehmen nun auch nutzen, um den Dialog zu erweitern. Denn neben der Lösung Corona-bedingter Probleme birgt die aktuelle Situation auch die Chance, andere arbeitsschutzrelevante Themen wie mentale Gesundheit auf die Tagesordnung zu bringen.
Fokus auf Sicherheitskultur und psychologische Sicherheit
Timo Kronlöf: Richtig. Wir sprachen mit Amy Edmondson von der Harvard Business School über psychologische Sicherheit. Sie stellte fest, dass in manchen Unternehmen verbesserte Arbeitssicherheit mit schlechteren Zahlen hinsichtlich Vorfällen und Beinahevorfällen einhergehen. Möglicherweise melden Mitarbeitende in solchen Unternehmen nämlich mehr Gefahren und Risiken, weil sie die nötige psychologische Sicherheit haben, und nicht versuchen, Probleme unter den Teppich zu kehren. Jedenfalls besteht aus meiner Sicht das Risiko, dass Menschen Angst davor haben, Missstände am Arbeitsplatz offen anzusprechen und Fehler zu melden. Sehen Sie dieses Risiko auch?
Andrew Sharman: Ich denke, dieses Risiko ist nicht neu. Die Kultur einer Organisation beeinflusst das Verhalten der Personen, die sich in ihr bewegen. Herrscht eine negative Kultur am Arbeitsplatz, werde ich nicht den Mund aufmachen und meine Bedenken laut aussprechen. Es gibt jedoch noch ein weiteres psychologisches Risiko, das aktuell sehr präsent ist. Bei der IOSH haben wir mit HSE-Fachkräften rund um den Globus gesprochen. 75 Prozent sagten, dass sie durch die Corona-Pandemie selbst ängstlicher geworden seien. Diese Ängste können durch das Virus selbst ausgelöst werden, aber auch von grundsätzlicher Natur sein. Viele machen sich Sorgen über die Zukunft ihrer Arbeitsplätze und ihrer Unternehmen. Dadurch wird sich auch das Denken über psychologische Sicherheit verändern.
Timo Kronlöf: Definitiv. Sicherlich kann Leadership auch hier eine wichtige Rolle spielen, um den Menschen in einem Unternehmen die nötige mentale Stabilität zu geben und zugleich die Veränderungen im Zuge der Corona-Krise effektiv zu begleiten.
Andrew Sharman: Ja. Neben den möglichen organisatorischen Veränderungen müssen Führungskräfte auch beobachten, inwiefern ein kultureller Wandel stattfindet, und darüber nachdenken, wie sie ihn beeinflussen können. Wenn wir akzeptieren, dass Ängste und Sorgen zu einer Veränderung von Verhaltensweisen und Kulturen führen kann, muss Leadership genau hier ansetzen. Man muss Vertrauen aufbauen und authentisch und glaubwürdig auftreten, um ein bestimmtes Maß an psychologischer Sicherheit zu gewährleisten.
Timo Kronlöf: Sie sprechen hier von Leadership bei HSE- und Arbeitsschutzmanagern. Sehr häufig sind diese jedoch gar nicht in Führungspositionen.
Andrew Sharman: Mit Leadership meine ich keine Positionen oder Titel, sondern eine Verhaltensweise: Leadership zeigt sich im Handeln. Wir alle haben Führungspotenzial, denn Leadership kann man erlernen.
One Percent Safer: Nachhaltiger Erfolg im Arbeitsschutz
Timo Kronlöf: Sie selbst sind ein großes Führungsvorbild. Aktuell verfolge ich Ihre „One Percent Safer“-Bewegung. Was ist das Besondere an dieser neuen Initiative?
Andrew Sharman: Was mich im Arbeits- und Gesundheitsschutz wirklich stört, ist das binäre Verständnis von Performance, sprich: der einseitige Fokus auf Null Unfälle. Bei diesem Ansatz ist es nämlich gleichgültig, ob es zu einem Arbeitsunfall kommt oder zu hunderten – das Ziel wird immer verfehlt. Es ist nicht nur demotivierend, sondern es ist auch kurzsichtig, Menschen damit unter Druck zu setzen, dass es nur akzeptabel ist, wenn ausnahmslos alle Unfälle vermieden werden.
Ich habe eingangs erwähnt, dass wir im Arbeitsschutz nicht viele Fortschritte erzielt haben. Noch immer sterben jedes Jahr 2,78 Millionen Menschen an den Folgen eines Arbeitsunfalls. Das sind 7.616 täglich, 317 pro Stunde und einer alle zehn Sekunden. „One Percent Safer“ legt den Schwerpunkt auf marginale Verbesserungen und allmähliche Fortschritte. Wenn wir es schaffen, die Arbeitswelt nur um ein Prozent sicherer zu machen, gehen jedes Jahr schon 28.000 mehr Menschen unverletzt in den Feierabend.
Das Buch als Grundpfeiler dieses Projekts möchte Organisationen ermutigen, sich nicht auf das Ziel „Zero Accidents“ festzulegen, sondern sich stattdessen darauf zu konzentrieren, echten, nachhaltigen Fortschritt zu bewirken. Im Buch kommen 142 der weltweit führenden HSE-Experten zu Wort, die Ratschläge dazu geben, wie Organisationen weltweit ein Prozent sicherer gemacht werden können.
Timo Kronlöf: Das ist auf jeden Fall ein sehr inspirierendes Projekt. Vielen Dank, Andrew. Ich hoffe, dass wir künftig noch mehr von dieser Idee hören werden.