Arbeitsschutz

Das Copy-Paste-Dilemma im Arbeitsschutz

So werden Sie zum Safety Innovator

5 Minuten04.05.2023

von Daniel Hummerdal

Arbeits- und Gesundheitsschutz ist geprägt von Vorgaben und Gesetzen. Im Arbeitsalltag verleitet dies häufig dazu, Maßnahmen und Vorgehensweisen von einem Unternehmen zum nächsten per Copy-Paste zu übernehmen. Kreativität kommt hingegen oft zu kurz. Ein wenig Vielfalt findet sich bestenfalls im Layout oder in den Begrifflichkeiten, etwa in Gefährdungsbeurteilungen. 

In diesem Artikel erfahren sie, warum wir in Bezug auf Arbeitssicherheit zum Kopieren und zur Übernahme tendieren und welche Auswirkungen dies hat. Außerdem zeigen wir Ihnen, wie Sie das Copy-Paste-Dilemma lösen und wie Sie von einem kreativen Umgang mit gesetzlichen Vorgaben im Arbeitsschutz profitieren.

Warum zögern wir, wenn es um Innovationen im Arbeits- und Gesundheitsschutz geht?

Es gibt durchausnachvollziehbare Gründe, weshalb wir lieber kopieren statt innovativ zu sein.

  • Wir haben Angst zu scheitern: Der Versuch, etwas Neues auszuprobieren, ist mit unbekannten Risiken verbunden. Diese reichen von Sicherheitsrisiken über Zeitverschwendung und Unterbrechung der Arbeitsabläufe bis hin zu Negativpresse und können den Erfolg eines Vorhabens erheblich beeinträchtigen.
  • Innovationen sind anstrengend: Unser Gehirn neigt von Natur aus dazu, lieber bekannte Wege zu gehen, weil diese einfacher, schneller, vertrauter und scheinbar weniger riskant sind.
  • Im Arbeitsschutz geht es darum, Verhalten zu ändern: Nicht selten zielt Arbeitsschutz darauf ab, Menschen zu einem Verhalten zu bringen, das dem entspricht, was andere für sicherer halten. Unser Berufsfeld ist der Idee verfallen, dass es einfacher sei, die Menschen an das anzupassen, was vorhanden ist, anstatt Methoden den Bedürfnissen der Menschen anzupassen.

Unangenehme Nebenwirkungen von Copy-Paste

„Wenn ich mich an dem orientiere, was alle anderen machen, dann stehen meine Erfolgschancen doch gut. Schließlich können sie ja nicht alle falsch liegen.“ Überzeugt? Ich würde sagen: Ganz so einfach ist es nicht. 

Unterschiedliche Kontexte sind schlicht und ergreifend eins: unterschiedlich. Wir bewegen uns in verschiedensten Ökosystemen, mit Anforderungen und Ausgangssituationen, die einzigartig, nuanciert und vielfältig sind. Es mag vielleicht verlockend sein, eine großartige Lösung zu kopieren, aber wenn Ihre Vorgehensweise nicht auf Ihre individuellen Gegebenheiten abgestimmt ist, kann dies zu Fehlern, Ineffizienz und einem unaufhörlichen Aus- und Nachbessern führen. Warum? Weil das Unternehmen, das die jeweilige Best-Practice-Lösung entwickelt hat, nicht wusste, welche Methode für Ihr Unternehmen am besten geeignet ist.

Wenn Sie versuchen, den Erfolg anderer zu kopieren, werden Ihre Mitarbeitenden schnell erkennen, dass dies nichts mit ihnen und ihrer Arbeit zu tun hat. Sie werden Arbeitsschutz unwillkürlich als langweilig, realitätsfremd und produktivitätshemmend verstehen. Ihre Chance, Gesetzeskonformität überzeugend nachzuweisen und realistische Daten und Kennzahlen – z. B. zu Sicherheitsrisiken, Arbeitsunfällen oder Sicherheitsvorfällen – zu generieren, ist gering. Ohne eine motivierte Belegschaft können Sie den Satus quo weder verstehen noch nachhaltig verbessern oder Ihr Unternehmen sicherer machen.

Die gute Nachricht ist:

Sie haben mehr Spielraum, als Sie denken, wenn es darum geht, bisherige Vorgehensweisen in Frage zu stellen und die Fähigkeiten in Ihrem Unternehmen zu nutzen, um zu verstehen, zu bewerten, zu erfinden und zu erhalten. In vielen Ländern gelten Gesetze, die Kennzahlen oder Grundsätze im Arbeitsschutz festlegen. Bestimmte Verpflichtungen sind somit klar vorgeschrieben. Die Art und Weise hingegen, mit der wir diese Anforderungen erfüllen, liegt oft in unserem Ermessen. 

Innovationsbeispiel: Gefährdungsbeurteilung

Legen wir die "Copy-Paste"-Mentalität beim Durchführen von Gefährdungsbeurteilungen ab, können wir inspirierende neue Ansätze finden: Ich habe gesehen, wie ein Team eine Arbeitssituation (einschließlich der Gefahren und Möglichkeiten zum Umgang) gemeinsam auf einen Lastwagen skizziert hat. Ich war dabei, als Mitarbeitende ein Lineal auf verschiedene Stellen einer Maschine gelegt haben, um Verletzungsrisiken zu veranschaulichen. Ich war auch Zeuge eines spielerischen Dialogs, in dem sich Mitarbeitende Szenarien ausmalten, wie ihr Vorhaben schiefgehen könnte. 

Bemerkenswert war, wie individuell und effizient dokumentiert wurde, dass die Verantwortlichen eine ordnungsgemäße Gefährdungsbeurteilung durchgeführt haben. In jedem Beispiel wurde die Lösung vor Ort entwickelt und erfüllte das jeweilige Team mit Stolz und Zugehörigkeit. 

Versuchen Sie bitte nicht, eine dieser Ideen zu kopieren, sondern betrachten Sie sie als Inspiration dafür, wie langweilig scheinende gesetzliche Vorgaben im Arbeits- und Gesundheitsschutz lebendig umsetzbar sind und dass das Potenzial menschlicher Fähigkeiten nur darauf wartet, von Ihnen genutzt zu werden. 

So werden Sie zum „Safety Innovator“

Um ein „Safety Innovator“ zu werden, müssen wir verstehen, dass die genannten „guten“ Gründe, zu kopieren statt innovativ zu sein, mit noch bessere Methoden überwunden werden können: 

Grund #1 gegen Innovation: Wir haben Angst, zu scheitern.

Zunächst müssen wir die Gründe für unsere Copy-Paste-Mentalität überwinden: Was die Angst vom Scheitern betrifft, so besteht der Trick darin, klein anzufangen. Versuche, bei denen man mit einem kleinen Team etwas Neues ausprobiert, werden schneller genehmigt und sind leichter zu finanzieren. Innovationen in kleinem Rahmen bergen weniger Risiken, sind leichter zu reproduzieren, weiterzuentwickeln und notfalls auch zu stoppen. 
Vielleicht noch wichtiger: Klein anzufangen und von dort einen Weg in die breite Anwendung zu finden, ermöglicht es uns, eine eigene Evidenzbasis für die neue Methoden und Prozesse zu schaffen. Schon bald werden unsere neuen Konzepte eine Unterstützung erfahren, die Copy-Paste-Lösungen nie erreichen würden.

Grund #2 gegen Innovation: Innovationen sind anstrengend.

Es gibt einen Zustand, in dem wir die Anstrengungen einer Innovation gern in Kauf nehmen: Wenn das Blut in unseren Adern in Wallungen gerät. Der Management-Guru Tom Peters behauptet: Die wichtigste Quelle für Innovationen seien „verärgerte Menschen“. Schauen wir uns also um: Was ist dysfunktional, verschwenderisch oder ineffizient und gibt uns dieses schleichende Gefühl, dass alles besser wäre, wenn doch nur ...? 

Grund #3 gegen Innovation: Im Arbeitsschutz geht es darum, Verhalten zu ändern.

Sie wollen menschentauglichen Arbeitsschutz und nicht arbeitsschutztaugliche Menschen? Entwickeln Sie Empathie! Empathie ist unsere Fähigkeit, die Dinge mit den Augen unserer Mitmenschen zu sehen. Um diesen Zustand zu erreichen, müssen wir unsere Vorstellungen von dem ablegen, was sein sollte und neugierig werden. Durch Empathie verstehen wir Schwierigkeiten und Bedürfnisse der Menschen und gewinnen Erkenntnisse darüber, was z. B. sicheres Verhalten oder eine Beteiligung and Arbeitsschutzprozessen fördert und was es behindert. Nur wenn Sie die Gründe verstehen, können Sie Lösungen finden, die zu Ihren Beschäftigten und den Arbeitsbedingungen passen. Indem Sie die Mitarbeitenden in Ihren Innovationsprozess einbeziehen, stellen Sie sicher, dass Ihre Ideen fruchten.

Wirklich gute Gründe, warum wir Arbeitsschutz innovativ gestalten sollten

Kreativität befähigt uns dazu, Prozesse und Abläufe im Arbeits- und Gesundheitsschutz so zu gestalten, dass sie besser, menschlicher und interessanter werden. Dies setzt jedoch voraus, dass wir eigene, individuelle Wege gehen und neue Methoden von innen heraus und vor Ort entwickeln.

Wenn wir keine Lösungen mehr von anderen erwarten, können wir Augen und Ohren auf unser eigenes Unternehmen richten, um zu verstehen, was gebraucht wird, und um Ideen zu entwickeln, wie wir es ermöglichen können. Erst wenn wir aufhören, nach oben und nach außen zu schauen, um Zustimmung zu finden oder uns anzupassen und stattdessen unsere Aufmerksamkeit und Wertschätzung nach unten und nach innen richten, haben wir die Voraussetzungen für kreative, eigenverantwortliche Problemlösungen geschaffen.

Daniel Hummerdal ist Head of Innovation bei WorkSafe New Zealand. Als einer der weltweit führenden Experten für Innovationen im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz ist er maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung von neuen Konzepten wie Safety-II und Safety Differently beteiligt.

Über den Autor

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